Bei der moralischen Distanzierung handelt sich um einen mentalen Prozess, durch den der Rezipient unmoralische Verhaltensweisen von Akteuren entschuldigt und akzeptiert, welche er sonst als unmoralisch betrachten würde. Es handelt sich um ein temporäres Loslösen von seiner persönlichen Überzeugung (Melzer & Holl, 2021, S. 676; Bandura, 2012, S. 1).
Gemäss Raney (2021) ist die moralische Distanzierung (Melzer & Holl, 2021, S. 676; Bandura, 2012, S. 1) der «process by which individuals can come to accept, permit, or perform behaviours that they would otherwise judge to be immoral» (S. 1273). Dabei handelt es sich um einen psychologischen Prozess, durch den moralisch inakzeptable Verhaltensweisen in einem bestimmten Kontext erlaubt, akzeptiert, toleriert und sogar verteidigt werden, indem wir unser moralisches Urteil temporär zurückstellen (Raney, 2004, S. 359; Bandura, 2012, S. 1; Raney, 2021, S. 35). Ein typisches Beispiel sind die so genannten white lies («harmlose Lügen»), die man gelegentlich verwendet, auch wenn man Lügen grundsätzlich als unmoralisch verurteilt (Raney, 2021, S. 1274). So kann jemand grundsätzlich freundlich, ehrlich und loyal sein, aber in bestimmten Situationen die moralischen Selbstsanktionen deaktivieren (Raney, 2021, S. 1274). Dieser Prozess verläuft oft intuitiv, um die kognitive Dissonanz zu reduzieren (Melzer & Holl, 2021, S. 676; Raney, 2021, S. 35). Die kognitive Dissonanz tritt auf, wenn eigene Handlungen nicht mit den eigenen Wertvorstellungen und Überzeugungen (Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes) übereinstimmen.
Bandura (2012) identifiziert neun Prozesse der moralischen Distanzierung (S. 1). Der erste ist die moralische Rechtfertigung (Moral Justification) (Melzer & Holl, 2021, S. 679; Raney, 2021, S. 35). Derjenige, der unmoralisch handelt, betrachtet die Handlung als tatsächlich konform mit seinen moralischen Normen, indem er seine Handlung rechtfertigt (Raney, 2021, S. 1273; Bandura, 2012, S. 2). So wird beispielsweise vom Militär das Töten unschuldiger Zivilisten im Kriege als eine «von Feinden bewahrende» Handlung umdefiniert (Raney, 2021, S. 1273; Raney, 2004, S. 359). Der zweite Prozess ist der vorteilhafte Vergleich (Advantageous Comparison) (Melzer & Holl, 2021, S. 679; Raney, 2021, S. 35). Dabei geht es darum, das unmoralische Verhalten mit einer als noch unmoralischer wahrgenommenen Alternative zu vergleichen, was das Erstere als angemessen erscheinen lässt (Raney, 2021, S. 1273; Bandura, 2012, S. 2). Das wäre zum Beispiel: «Violence is made morally acceptable by claiming that one’s injurious actions will prevent more human suffering than they cause» (Bandura, 2012, S. 2). Der dritte Prozess ist die euphemistische Etikettierung (Euphemistic Labeling) (Melzer & Holl, 2021, S. 679; Raney, 2021, S. 35). Dabei verwendet man spezifische verbale Ausdrücke, um eine unmoralische Handlung abzuschwächen (Raney, 2021, S. 1273; Bandura, 2012, S. 2–3). So wird etwa das Kommunizieren einer Lüge gerechtfertigt als «eine Notlüge erzählen» oder als white lie abgeschwächt (Raney, 2021, S. 1273). Der vierte Prozess, die Verschiebung der Verantwortung (Displacement of Responsibility) (Melzer & Holl, 2021, S. 679; Raney, 2021, S. 35) tritt auf, wenn Akteure ihre unmoralischen Handlungen als Ergebnis einer Anweisung von der Autorität wahrnehmen (Raney, 2021, S. 1273–1274; Bandura, 2012, S. 3; Raney, 2004, S. 359). Der fünfte Prozess ist die Diffusion der Verantwortung (Diffusion of Responsibility) (Melzer & Holl, 2021, S. 679; Raney, 2021, S. 35). Dabei wird eine andere Entität als der wahre Akteur der unmoralischen Handlung wahrgenommen (Raney, 2021, S. 1274; Bandura, 2012, S. 3). Dies kann beispielsweise durch «ich folge nur den anderen» zum Ausdruck gebracht werden (Raney, 2021, S. 1274). Der sechste und siebte Prozess besteht in der Ignorierung und Verzerrung der Folgen (Disregarding or Distorting the Consequences) (Melzer & Holl, 2021, S. 679; Raney, 2021, S. 35). Dabei werden die Konsequenzen eines unmoralischen Verhaltens minimiert, ignoriert oder zu verfälscht (Raney, 2021, S. 1274; Bandura, 2012, S. 3). So wird etwa der Krieg als «nicht so schlimm» dargestellt (Raney, 2021, S. 1274; Raney, 2004, S. 359). Der achte Prozess ist die Entmenschlichung (Deshumanisation) (Melzer & Holl, 2021, S. 679; Raney, 2021, S. 35). Dabei wird ein Opfer einer unmoralischen Handlung als «weniger menschlich» wahrgenommen (z. B. als Ungeziefer, Wild, Menschenaffen, ) (Raney, 2021, S. 1274; Bandura, 2012, S. 3–4). Der neunte Prozess ist die Schuldzuschreibung (Attribution of Blame). Dabei werden die Opfer für ihre eigene Viktimisierung verantwortlich gemacht (Raney, 2021, S. 1274; Bandura, 2012, S. 3–4). Eine typisches Beispiel ist das Vergewaltigungsopfer, das wegen seiner Kleidung für die Untat des anderen verantwortlich gemacht wird (Raney, 2021, S. 1274).
Quellen:
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