Die Sprechakttheorie begreift sprachliche Äußerungen als Handlungen, durch die soziale Wirklichkeit geschaffen wird. Sie wurde in den 1950er- und 1960er-Jahren von John L. Austin und John R. Searle begründet und stellt einen zentralen Paradigmenwechsel in der Sprachphilosophie dar: Sprache ist nicht bloß ein Mittel zur Beschreibung von Tatsachen, sondern selbst ein Instrument sozialen Handelns. In der Kommunikationswissenschaft dient die Sprechakttheorie als theoretische Grundlage zur Analyse von Kommunikationshandlungen, etwa in Krisenkommunikation, Öffentlichkeitsarbeit oder Medienberichterstattung.
Entstehung und theoretische Grundannahme
Die Sprechakttheorie entstand als Gegenbewegung zur logisch-empiristischen Bedeutungstheorie, die den Wahrheitswert von Aussagen in den Mittelpunkt stellte. John L. Austin kritisierte diese Sichtweise in seiner bahnbrechenden Vorlesung „How to Do Things with Words“ (1962):
„To say something is to do something.“
Damit wird Sprache als Handlungsvollzug verstanden: Wenn jemand etwas sagt, führt er gleichzeitig eine Handlung aus. Diese Grundannahme bildet den Ausgangspunkt der modernen Pragmatik.
John R. Searle systematisierte Austins Gedanken weiter und formulierte ein regelgeleitetes Modell sprachlicher Handlungen. Sprache ist demnach konventionell, d. h. sie funktioniert nach sozialen Regeln, die Sprecher und Hörer gemeinsam beherrschen müssen, um erfolgreich zu kommunizieren.
Grundbegriffe und Struktur sprachlicher Handlungen
Austin unterschied drei Ebenen des sprachlichen Handelns:
- Lokutionärer Akt – das Äußern eines Satzes mit bestimmter Bedeutung (z. B. „Die Tür ist offen.“)
- Illokutionärer Akt – die intendierte Handlung des Sprechers, etwa eine Bitte, Warnung oder Entschuldigung (z. B. „Mach bitte die Tür zu.“)
- Perlokutionärer Akt – die Wirkung auf den Hörer (z. B. dass er die Tür tatsächlich schließt).
Searle führte diese Unterscheidung fort und ordnete illokutionäre Akte in fünf Klassen ein:
Typ | Funktion | Beispiel |
---|---|---|
Assertiva | Darstellung eines Sachverhalts | „Es regnet.“ |
Direktiva | Versuch, den Hörer zu einer Handlung zu bewegen | „Schließ das Fenster!“ |
Kommissiva | Selbstverpflichtung des Sprechers | „Ich verspreche, morgen zu kommen.“ |
Expressiva | Ausdruck psychischer Zustände | „Es tut mir leid.“ |
Deklarativa | Erzeugung sozialer Tatsachen | „Ich erkläre Sie zu Mann und Frau.“ |
Damit wird deutlich: Sprache ist konstitutiv für soziale Realität – durch Äußerungen entstehen Fakten, Verpflichtungen, Beziehungen und Institutionen.
Gelingensbedingungen und Konventionalität
Ein Sprechakt gelingt nur, wenn bestimmte Felizitätsbedingungen erfüllt sind (Austin):
- Der Kontext muss passen (eine Taufe durch eine autorisierte Person);
- Der Sprecher muss die konventionelle Formel korrekt verwenden;
- Der Hörer muss die Äußerung verstehen und anerkennen.
Diese Regelhaftigkeit zeigt, dass Kommunikation immer auch soziale Kooperation voraussetzt. Sprache funktioniert nur, wenn Sprecher und Hörer dieselben kommunikativen Konventionen teilen.
Bedeutung für die Kommunikationswissenschaft
Die Sprechakttheorie bildet bis heute eine Grundlage für Theorien und Modelle der Kommunikation, da sie das Handlungs- und Beziehungscharakter sprachlicher Äußerungen betont.
- In der Medienkommunikation hilft sie, journalistische und politische Aussagen als kommunikative Akte zu verstehen – etwa, wenn ein Politiker verspricht, ankündigt oder sich entschuldigt.
- In der Krisenkommunikation erklärt sie, wie Organisationen durch kommunikative Akte (z. B. Entschuldigung, Rechtfertigung, Korrektur) versuchen, Vertrauen wiederherzustellen.
- In der Öffentlichkeitsarbeit erlaubt sie, die Wirksamkeit von Kommunikationsstrategien anhand ihrer illokutionären Funktionen zu analysieren.
Darüber hinaus beeinflusste die Sprechakttheorie Konzepte wie die Frame-Analyse, die Diskursanalyse oder narrative Theorien, die den performativen Charakter von Kommunikation betonen.
Verhältnis zur Diskursanalyse
Die Sprechakttheorie und die Diskursanalyse teilen den performativen Grundgedanken, unterscheiden sich jedoch in Reichweite und Fokus:
Aspekt | Sprechakttheorie | Diskursanalyse (Foucault) |
---|---|---|
Analyseebene | einzelne kommunikative Handlung | gesellschaftliche Diskursordnung |
Fokus | Intention des Sprechers, Regelhaftigkeit des Sprachgebrauchs | Struktur des Sagbaren, Macht/Wissen |
Ziel | Verständnis kommunikativer Akte und ihrer Wirkungen | Rekonstruktion der Bedingungen, unter denen Aussagen möglich sind |
Die Diskursanalyse erweitert somit die Sprachakttheorie, indem sie deren mikrokommunikative Perspektive makrosoziologisch einbettet.
Kritik
Die Sprechakttheorie wird u. a. dafür kritisiert, dass sie:
- von einem rationalen, intentionellen Sprecher ausgeht;
- Kontext und Machtverhältnisse unzureichend berücksichtigt;
- die Ambivalenz und Polysemie realer Kommunikation unterschätzt.
Gerade diese Punkte haben später zur Entwicklung der Diskursanalyse, der Konversationsanalyse und der sozialkonstruktivistischen Kommunikationstheorien geführt, die Sprache stärker als soziale Praxis unter Machtbedingungen begreifen.
Bedeutung für die KMK-Perspektive
Für das KMK-Projekt bietet die Sprechakttheorie eine mikroanalytische Grundlage zur Untersuchung einzelner kommunikativer Akte im Krisenkontext.
Sie erlaubt die systematische Klassifikation und Bewertung von Reaktionen einer Organisation:
- Assertive Akte (Erklärungen, Faktenwiedergaben),
- Expressive Akte (Bedauern, Empathie),
- Kommissive Akte (Versprechen von Wiedergutmachung),
- Deklarative Akte (Einsetzung von Untersuchungskommissionen).
Durch die Kombination mit diskursanalytischen und framingtheoretischen Verfahren lässt sich zeigen, wie diese Akte in größere Deutungsrahmen, Machtverhältnisse und Diskurse eingebettet sind.
Literatur
- Austin, J. L. (1962): How to Do Things with Words. Oxford: Clarendon Press.
- Searle, J. R. (1969): Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge: Cambridge University Press.
- Searle, J. R. (1979): Expression and Meaning. Studies in the Theory of Speech Acts. Cambridge: Cambridge University Press.
- Searle, J. R., Wiggershaus, R., Wiggershaus, R., & Searle, J. R. (1979). Sprechakte: Ein sprachphilosophischer Essay (12. u. 13. Tsd). Suhrkamp.
- Watzlawick, P., Beavin, J. & Jackson, D. (1967): Pragmatics of Human Communication. New York: Norton.
- Habermas, J. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- van Dijk, T. A. (1980): Text and Context. Explorations in the Semantics and Pragmatics of Discourse. London: Longman.
- Keller, R. (2011): Wissenssoziologische Diskursanalyse. Wiesbaden: VS Verlag.