Die Diskursanalyse untersucht, wie gesellschaftliche Wirklichkeit durch Sprache, Wissen und Macht hervorgebracht wird. In der Tradition Michel Foucaults steht sie für eine Analyse der Bedingungen, unter denen Aussagen in bestimmten historischen Kontexten als wahr, legitim oder rational gelten. Sie wird in der Kommunikationswissenschaft genutzt, um Deutungsmuster, Machtverhältnisse und Verantwortlichkeitszuschreibungen in öffentlichen Kommunikationsprozessen – etwa in Krisensituationen – sichtbar zu machen.
Die Diskursanalyse versteht Kommunikation nicht als bloße Übertragung von Informationen, sondern als konstitutive Praxis gesellschaftlicher Ordnung. Michel Foucault hat mit seinen Arbeiten (L’archéologie du savoir, 1969; Surveiller et punir, 1975; Histoire de la sexualité, 1976–1984) gezeigt, dass Sprache soziale Wirklichkeit formt, indem sie festlegt, was sagbar ist, wer sprechen darf und welche Aussagen als wahr gelten.
Diskurse sind somit keine neutralen Redezusammenhänge, sondern Systeme von Regeln, die die Produktion von Wissen und Subjektpositionen ermöglichen. Foucaults Diskursbegriff betont den unauflöslichen Zusammenhang von Macht und Wissen: Macht erzeugt Wissen, und Wissen stabilisiert Machtverhältnisse.
Zentrale Konzepte
- Macht/Wissen-Komplex: Macht ist nicht primär repressiv, sondern produktiv – sie schafft Subjekte, Wissensformen und gesellschaftliche Normen.
- Aussagen (énoncés): Grundelemente von Diskursen; einzelne Sprechakte werden erst durch diskursive Regeln bedeutungsvoll.
- Diskursformation: Das Regelgefüge, das bestimmt, welche Aussagen in einem Feld möglich sind.
- Archäologie: Analyse der formalen Bedingungen der Wissensproduktion in einem historischen Kontext.
- Genealogie: Untersuchung der historischen Praktiken, durch die Diskurse Machtwirkungen entfalten.
- Subjektkonstitution: Individuen werden in Diskursen positioniert (z. B. als Schuldige, Opfer, Experten, Verantwortliche).
Methodische Zugänge
Die Foucault’sche Diskursanalyse ist primär rekonstruktiv und interpretativ. Sie fragt nicht nach Ursachen oder Intentionen, sondern nach den Bedingungen der Möglichkeit von Aussagen. In der empirischen Kommunikationsforschung werden ihre Prinzipien oft mit systematischen Verfahren kombiniert, etwa:
- Diskursstranganalyse (Jäger 2004): Rekonstruktion zusammenhängender Argumentationsstränge;
- Kritische Diskursanalyse (Fairclough, Wodak): Verbindung von sprachlicher Mikroanalyse und gesellschaftlicher Makroanalyse;
- Frame-Analyse: Identifikation von Deutungsrahmen, die Diskurse strukturieren;
- KI-gestützte Inhaltsanalysen: Automatisierte Erkennung semantischer, emotionaler und normativer Muster (z. B. im Rahmen des KMK-Projekts).
Anwendung in der Kommunikationswissenschaft
In der Kommunikationswissenschaft erlaubt die Diskursanalyse, die Herstellung von Wirklichkeit durch mediale Kommunikation zu erfassen. Sie macht sichtbar, wie journalistische und organisationale Kommunikationsakte Deutungsmacht ausüben, Legitimität konstruieren oder Verantwortlichkeiten zuweisen.
Gerade in der Krisenkommunikation ist die Diskursanalyse zentral:
- Sie zeigt, wie ein Ereignis erst durch kommunikative Praktiken zur „Krise“ wird.
- Sie untersucht, wer über die Krise spricht, in welcher Sprache und mit welchen Machtwirkungen.
- Sie ermöglicht, die Diskursordnung zu rekonstruieren, innerhalb derer bestimmte Handlungsoptionen als legitim erscheinen und andere ausgeschlossen bleiben.
Damit liefert sie eine theoretische und methodische Grundlage zur Analyse der Deutungshoheit in Krisensituationen – ein zentraler Aspekt im Rahmen des KMK-Projekts zur strategischen Entscheidfindung von Organisationen in Krisen.
Bedeutung für die Krisenforschung
Aus Foucaults Perspektive ist eine Krise kein objektiv gegebener Zustand, sondern das Resultat diskursiver Kämpfe um Wahrheit, Schuld und Verantwortung. Organisationen agieren innerhalb dieser Diskurse, wenn sie ihre eigene Position durch Framing, Narrativsteuerung oder symbolische Entlastung zu behaupten versuchen.
Eine Foucault-inspirierte Diskursanalyse zeigt somit:
- Krisenkommunikation ist Teil des Machtkampfs um Deutungshoheit,
- „Wahrheit“ entsteht durch institutionalisierte Diskurspraktiken,
- und die Möglichkeiten strategischer Kommunikation sind stets durch Diskursordnungen begrenzt.
Literatur
- Foucault, M. (1969): L’archéologie du savoir. Paris: Gallimard.
- Foucault, M. (1975): Surveiller et punir. Naissance de la prison. Paris: Gallimard.
- Foucault, M. (1976–1984): Histoire de la sexualité. Paris: Gallimard.
- Focault, M. (2023). Archäologie des Wissens. Frankfurt: Suhrkamp Verlag.
- Keller, R. (2008): Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS Verlag.
- Wodak, R. & Meyer, M. (Hrsg.) (2016): Methods of Critical Discourse Studies. 3rd ed. London: Sage